Alle Beiträge von Daniel Schlechter

JIM JARMUSCH – ONLY LOVERS LEFT ALIVE (FILM)

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only-lovers-left-alive_stills_13Manche Figuren gehören fest zum Kino. Der Cowboy, der Geheimagent, der Superheld und natürlich der Vampir. Sie und das Kino leben in Symbiose, erhalten sich gegenseitig am Leben. Geschichten mit ihnen sind leicht erzählt, denn das schwierigste an einer guten Geschichte sind gute Charaktere. So wurden sie allerdings auch nach und nach zu einer Karikatur ihrer selbst, der Vampir wurde im Kino zuletzt als Vehikel evangelikaler Sexualmoral missbraucht. Zum Glück erfindet sich das Kino fortwährend neu und es ist schon sehr ironisch, dass ausgerechnet einer der Könige des Independent Films eine Figur rettet, die das ihm verhasste Hollywood erst aufgeputscht und dann zerfleddert hat. Jim Jarmusch gibt dem Vampir seine Seele zurück. ‚Only Lovers Left Alive‘ ist eine perfekt komponierte Vintage-Symphonie, in der Bild und Ton zu einem Kunstwerk verschmelzen, das mit Jarmuschs typisch lakonischem Humor der menschlichen Gesellschaft ihre Kurzsichtigkeit vor Augen hält.

Eve und ihr Lebenspartner Adam leben das Leben so, wie man es im Angesicht der ewigen Existenz wohl nur leben kann: Zurückgezogen, auf schöne Essenzen beschränkt, mit der Kunst der vergangenen Jahrhunderte, sie im marokkanischen Tanger, er in einem verlassen Industrieteil von Detroit. Schon ewig ein Paar leben die beiden Vampire die meiste Zeit getrennt, Eve als Schöngeist für Kunst und Literatur, Adam als Misanthrop und Gitarrenvirtuose. Blut bekommen sie von bestochenen Ärzten und trinken es aus Kristallgläsern, das Töten von Menschen ist für sie schon lange verpönt. Sie leben in der Zeitlosigkeit, Trends und Moden berühren sie kaum, aus jeder Zeit nehmen sie Kleinigkeiten mit und lassen das Meiste ungerührt links liegen. Eve tippt auf einem Smartphone, während sie ein antiquarisches Original durchblättert, Adam ist unter anderem für die meisten Stücke Franz Schuberts verantwortlich und nimmt heute mit analoger Technik einsame Gitarrenriffs auf. Um ihn aus seiner Depression zu holen, nimmt Eve einen Nachtflug nach Detroit und verlässt ihr hippiehaftes Umfeld.

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Das Besondere an Jarmuschs Filmen ist seine Umkehrung der Filmlogik. Es gibt schon so etwas wie eine Handlung, aber im Vordergrund stehen immer die Charaktere. Einige Zuschauer sind davon schnell überfordert und auch viele Fans konnten mit seinem letzten Film, der kaum greifbaren Spiegelungsparabel ‚The Limits of Control‘ wenig anfangen. ‚Only Lovers Left Alive‘ ist da zugänglicher, schon allein weil Adam und Eve als Paar so viel Wärme transportieren und einen sehr glaubwürdigen Blick auf die Welt aus ihrer Ewigkeitsperspektive erlauben. Die Menschen sind für das scheue Paar wie Zombies, unfähig ihren Blick zu erweitern und über den nächsten Tag hinaus zu denken. Mit poetischer Langsamkeit und herrlicher Trockenheit schauen sie Detroit dabei zu, wie es von der Natur langsam zurückerobert wird und schmunzeln darüber, wie ihr Vampirfreund Marlowe einst die Stücke verfasste, die heute William Shakespeare zugeschrieben werden. Für Menschen epochale Ereignisse, für die untoten Bohemians nur Wimpernschläge in der Ewigkeit. Jarmusch hat in seinen Filmen immer die unschönen Hinterhöfe der glänzenden Fassaden gezeigt. ‚Only Lovers Left Alive‘ zeigt die Kehrseite der ganz großen Fassade, die der Menschheit. Sie wirtschaften ihren Planeten runter, Kunst und Kultur werden immer kurzlebiger und ihr Blut ist von Medikamenten verseucht. Wenn Adam und Eve reisen, dann nennen sie sich Stephen Dedalus und Daisy Buchanan, denn sie rechnen nicht damit  jemanden zu treffen, der die epochalen Romane von Joyce und Fitzgerald noch kennt, obwohl sie keine hundert Jahre alt sind. In Adam und Eves Augen sehen die Menschen in Raum und Zeit nur ihre eigenen Ausschnitte.

Ein Charakterfilm kann nur mit starken Schauspielern funktionieren und das Ensemble von ‚Only Lovers Left Alive‘ brilliert bis in die letzte Nebenrolle. An erster Stelle beeindruckt natürlich Tilda Swinton, sie legt all ihre androgyne Mystik in ihre Figur und schafft damit eine losgelöste, aparte und geheimnisvolle Eve. Adam sorgt für den bissigen Sarkasmus, der die Psyche des Paares komplettiert. Für ihn kann Tom Hiddleston endlich wieder all seine Facetten zeigen, vom verschmitzten Lächeln bis zur depressiven Bitterkeit. Beide bewegen sich in einem Film, der durch das kongeniale Zusammenspiel von Schnitt, Kamera und Licht zu Musik wird, von den grandiosen Nachtaufnahmen Detroits ganz zu schweigen. Von Adams Songs bis zu den Büchern, die Eve mit auf Reisen nimmt, sorgt eine beeindruckende Detailliebe für das i-Tüpfelchen in der ewigen Existenz des Vampirs. Ein Geschenk aus dem Arthaus.

Daniel Schlechter

DEAP VALLY – SISTRIONIX (LP)

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artworks-000060336960-frb431-originalSo wie es vor zehn Jahren das The vor dem Bandnamen war, so könnte die Formation des Duos das nächste heiße Ding im Indie sein. Spätestens seit den unvergleichlichen Japandroids ist klar: Zwei Musiker können mehr Energie haben, als AC/DC und Motörhead zusammen. Alles was es dazu braucht: Schmissiges Songwriting, Lautstärke und diese besondere Live-fast-die-young-Energie, die nur entsteht, wenn man es auch wirklich meint. Deap Vally vereinen all diese Eigenschaften und stellten sie gerade auf einer Europatour unter Beweis. Ihr fulminantes Debütalbum ‚Sistrionix‘ ist in den USA bereits Mitte des Jahres erschienen und nun endlich auch hier erhältlich.

Deap Vally sind Lindsey Troy und Julie Edwards aus dem San Fernando Valley in Kalifornien und sie spielen ihre Art von Rockmusik so, als wäre es die einzige Musik, an die je zu denken wäre. Ein pulsierender Mix aus erdigem Blues Rock, garagenverhaftetem Schweine-Rock’n’Roll und immer wieder überschäumendem, psychedelischem Space Rock à la Hawkwind. All diese Zutaten jagt Lindsey Troy durch ihre aberwitzige Fuzz-Gitarre, deren Sound schon symbolisiert, was Deap Vally so gut macht: Sie nehmen die Musik und ihre Einflüsse unglaublich ernst – sich selbst dafür kein Stück.  Die beiden Mädels spielen diesen brodelnden Mix mit einer frenetischen Leidenschaft und Aggression, die den Mund offen stehen lässt. Sie stürzen nach vorne, vom berstenden Schlagzeug getrieben und verlieren sich im nächsten Moment in dahinfließender, krautiger Blues-Improvisation. Die Produktion des Albums verzichtet dabei mit Recht auf Verschönerungen, denn die Musik ist so pur, dass sie nicht mehr geschliffen werden muss.

Songs wie ‚Your Love‘ erinnern ganz offensichtlich an die Black Keys und die White Stripes, andere Nummern tragen die Energie der ganz frühen Yeah Yeah Yeahs. ‚Walk of Shame‘ ist eine herrlich clevere, humorvolle Übersetzung von altem Blues in neuen Indie Rock und nebenbei ein knackiger Seitenhaken auf all die Mehr-Schein-Als-Sein-Girlies, die sich noch nicht aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit erhoben haben. Apropos: Als weibliches Duo, dass die seit Jahrzehnten von Männern dominierten Spielarten des Rocks aufgreift, kommen Deap Vally praktisch nicht um ein Statement zum Thema Gender herum. Und hier kann man nur danke sagen. Kim Gordon und womöglich sogar Judith Butler wären stolz: ‚Gonna Make My Own Money‘ meint eine Frau, die ihr eigenes Geld verdient und sich nicht von reichen Männern abhängig macht – das schöne ist jedoch, dass es dabei bleibt. Dieses einfache Statement, dass der feministische Diskurs zu oft zum Männerhass umgedeutet und damit ins Lächerliche gestürzt hat, ziehen Deap Vally durch und präsentieren sich in den restlichen Songs als lebensbejahende Frohnaturen, die so gut sind, dass sie auch automatisch auf Augenhöhe mit den Männern der Rockmusik sind, darum müssen sie nicht streiten. Alle die es vergessen haben, werden von Deap Vally daran erinnert, dass die Gender-Debatte auch cool geführt werden kann.

Das Highlight der Platte kommt ganz zum Schluss. Das psychedelisch-gewaltvolle und irgendwie ziemlich erotische ‚Six Feet Under‘ ist so aufregend und anziehend, wie es für Kinder damals eine richtig gruselige Geisterbahn war. So wie dort weiß man bei diesem Song irgendwann nicht mehr, wo man ist und wohin es führt. Diese Band hat gerade eine längere Tour mit Thurston Moore und Dinosaur Jr. hinter sich, zu denen sie perfekt passen und wer es einrichten kann, sollte sich einen Termin auf der nächsten Tour sichern. Denn was sie auf der Platte versprechen, das übertrumpfen sie live.

Daniel Schlechter

BILL CALLAHAN – DREAM RIVER (LP)

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0781484055310_1Bill Callahan ist noch ein richtiger Kerl. Ein schweigsamer Einzelgänger, der mit der Zivilisation nie so richtig ins Reine gekommen ist. Manchmal etwas miesepetrig. Einer der viel lieber in diversen Bands Musik macht, Romane schreibt und Bilder malt als wäre er die impressionistische Reinkarnation Casper David Friedrichs. Alles ohne großen Schnick Schnack. Und groß drüber reden? Um Gottes Willen! Callahan hat sich in die Einsamkeit zurückgezogen und genießt dort die ganz einfachen Seiten des Lebens. Musikalisch könnte das verdammt kitschig ausgehen, wären da nicht sein lakonischer Humor und sein überragend raffiniertes Songwriting. ‚Dream River‘ wirkt in Zeiten der wiederbelebten, unsäglich gekünstelten Folk-Musik wie das versonnene Lächeln eines wahren Künstlers.

Es ist die vierte Platte, die der Endvierziger aus Austin, Texas, unter seinem bürgerlichen Namen veröffentlicht. Vorher war er vor allem für seinen trotzigen Lo-Fi-Rock unter dem Namen Smog bekannt. Callahan flanierte immer in der Schnittmenge mehrerer Genres, so auch auf seinem neuen Album. Es ist hörbar von Folk und Country beeinflusst, ohne aber eines von beiden zu sein. Es enthält sehr viele Rock-Elemente, ohne Rockmusik zu sein, sodass es am besten mit dem Überbegriff Americana beschrieben werden kann – dieses mysteriöse Genre, das wenn wir mal ehrlich sind, noch niemand so richtig definieren konnte.


 

Musikalisch schwelgt Bill Callahan geradezu in der freien Form. Es gibt keine Refrains, stattdessen mäandernde Songs, die sich wie der Schmetterling aus der Raupe langsam entpuppen. Dieser organische Sound klingt simpel, dahinter stecken jedoch unzählige Instrumente, die von Callahan so knapp und prägnant zum Akzentuieren der Songs genutzt werden, als wären sie nur dafür gebaut worden. Das einzig beständige ist oft nur die Jazz-Percussion, die alles zusammenhält. So genial einfach die Songs klingen, so entrückt sind sie bei genauerem Hinhören wirklich und Callahan muss sicher ein halbes Dutzend Musiker auf die Bühne bringen, um seine Songs live zu spielen.

Callahans Songwriting gleicht einem Gebirgsbach, dessen Ziel nur der Weg ist, den er sich völlig unvorhersehbar durch die Landschaft bahnt. Diese Musik versprüht den Charme seliger Einsamkeit, mit herrlichem Humor untermalt. So beschreibt Callahan in ‚The Sing‘ das Sitzen an einer Hotelbar und singt: „The only words / I said today / are ‚beer‘ / and ‚thank you‘.“ Einen Rhythmus bekommt dieser von Streichern und leiser Gitarre getragene Song zunächst nur von zwei Klanghölzern, dem einsamsten aller Instrumente, bis dann Callahans warmer Bariton einsetzt. So würde Tom Waits heute klingen, wäre er nicht so viel mit Frank Zappa auf Tour gegangen. Gemeinsam haben beide die Weisheit der Worte und die Romantik. Callahan bleibt dabei immer positiv, reißt kleine Witze und macht das melancholische Lächeln, das er im Augenwinkel trägt, auf magische Weise hörbar.

In Songs wie ‚Javelin Unlanding‘ steckt ungemein viel Poesie, die von Callahan im lockeren Plauderton vorgetragen wird. Zur freien Form seiner Musik passt seine metaphorische Offenheit, die keine manifesten Aussagen daherposaunt sondern den Zuhörer vielmehr selbst erkennen lässt, welche Weisheiten zwischen den Zeilen stecken. So beschreibt er im Song ‚Small Plane‘, einem Highlight der Platte, das Gefühl menschlicher Vertrautheit mit sehr vagen Worten und könnte den Kern dabei doch nicht besser treffen: „Sometimes you sleep / while I take us home / that’s when I know / we really have a home.“ Ganz groß.

Daniel Schlechter

DARKSIDE – PSYCHIC (LP)

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DARKSIDE_Pack_ShotNicolas Jaar ist ein musikalisches Wunderkind. Im Alter von 19 Jahren gründete er das Label Clown & Sunset und brachte mit 21 Jahren sein Debüt ‚Space Is Only Noise‘ heraus. Seine Musik vibriert zwischen Minimal Techno und einer sehr spannenden, schmutzig-dunkelen Version von Soul. Langsame Beats treffen auf dahinfließende Klanggebilde. So auch auf „Psychic“, dem Debütalbum von Darkside.

Für Darkside hat sich Jaar mit Multiinstrumentalist Dave Harrington zusammengetan. Harrington hat Jaar in den letzten Jahren als Gitarrist auf Tour begleitet. Die Proben für Jaars Konzerte sollen dabei immer häufiger in endlose Jam Sessions ausgeufert sein. Für ihr erstes Konzert sollen Darkside gerade mal 20 Minuten Material fertig gehabt haben, der Rest des einstündigen Sets wurde improvisiert. Dieses Element der Improvisation macht auch ihr Debüt ‚Psychic‘ so spannend wie ein Jazzalbum. Die acht Tracks klingen meist wie Skizzen, offen und unvorhersehbar, roh und kantig, was sie keineswegs stümperhaft (dafür sind Jaar und Harrington zu sehr Vollblutmusiker) sondern überaus charmant macht.

Der Opener ‚Golden Arrow‘ setzt sich über elf Minuten nach und nach zusammen und wirkt fast wie eine atmosphärische Einstimmung für die beiden Musiker, die ihre Instrumente zwar schon umgeschnallt  haben,  aber noch in Ruhe aufrauchen wollen. Langsam baut sich der Song auf, manche seiner  Klangspuren brechen abrupt ab während neue dazukommen. Synthesizer schwirren über ruhige Celli hinweg, ein schleppender Beat setzt ein, eine diskohafte Gitarrenmelodie gesellt sich später dazu. Bald hat der Song eine eindringliche, krautrockige Dichte erreicht, die schnell wieder aufbricht, sodass nichts zu dick aufgetragen klingt.

Dröhnen, Rauschen und Knistern sind die bindenden Elemente auf ‚Psychic‘. Fast jedes Stück beginnt und endet im weißen Rauschen. Das Album wirkt wie eine Studiosession, in der Jaar und Harrington live experimentieren und einander Soundfragmente zuwerfen. Der Track ‚Heart‘ verbindet zum Beispiel einen fast marschartigen Beat mit einer sehr erdigen Gitarre, die auch aus einem Progrock-Song stammen könnte. Dazu setzt unvermittelt das Falsett von Jaar ein, mal sehnsuchtsvoll, mal gespenstisch, immer ziemlich bluesig. Das alles steuert auf die Single ‚Paper Trails‘ hinzu, dem greifbarsten Song der Platte, der vor allem vom Zwiegespräch zwischen obskurem Gesang und pointierten Gitarrenriffs lebt.  Remixe für das Berghain gibt es schon jetzt zuhauf. In ‚The Only Shrine I’ve Seen‘ nähern sich die beiden Musiker dem Funk an, setzen mal die Gitarre, mal die Synthies nach vorn und stellen ihnen einen eingängigen Beat zur Seite, der langsam einem psychedelischen Dröhnen Platz macht.

‚Psychic‘ ist eine Schatzkammer aus Klangflächen, Soundfetzen und Effekten, die gut der Soundtrack zu einem Kurzfilm von David Lynch oder einer endlosen Autofahrt durch eine verlassene Großstadt bei Nacht sein könnte. Die Art und Weise der jazzigen Improvisation, das Zusammenspiel dieser beiden Musiker ist genreunabhängig für jeden Musiker und Musikliebhaber interessant. Trotz aller Sound-Vielfalt hat jedes Stück einen stimmigen roten Faden. Auf Darkside darf man gespannt bleiben, denn offensichtlich treffen hier sehr viel Kreativität und das nötige Know-How aufeinander.

Daniel Schlechter

SIGUR RÓS – KVEIKUR (LP)

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kveikurVon der isländischen Band Sigur Rós wird gern behauptet, sie wäre nicht von dieser Welt. Sie könne nur einer Traumwelt entstammen, bevölkert von Feen, Elfen und was sonst noch (in unserem Klischee) unter dem isländischen Polarlicht herumschwebt. Dieser mystische, sphärisch-mehrdimensionale Sound klang neu, fremd und aufregend, ihr entrücktes Songwriting zeichnete sich meist durch eine unvorhersehbare Dramatik zwischen Trance und Ausbruch aus.

‚Kveikur‘ ist ihr siebtes Studioalbum und stellt gleichzeitig eine Rückbesinnung auf die kreative Essenz der Band dar, der die Musiker mit einem überraschend aggressivem und kantigem Sound frönen. Nach folkig-hippiehaften Ausflügen auf ‚Með suð í eyrum við spilum endalaust‘ und dem recht langweiligen, in körperlos-ätherischem Klang untergehenden ‚Valtari‘ zeigen Sigur Rós auf ‚Kveikur‘ wieder Mut zu Härte und Reibung. Dieses Album ist die lang ersehnte Anknüpfung an den bombastischen Post Rock ihres Albums ‚Takk. . .‘ und an ihren Meilenstein ‚Ágætis byrjun‘ von 1999.

Der Opener ‚Brennisteinn‘ gebärdet sich von der ersten Sekunde regelrecht beklemmend, mit knarzenden Bässen, sirenenhaften Gitarren und dem außerirdischen Gesang Jónsi Birgissons. Es entsteht das Gefühl des Durchwanderns einer nächtlichen Gletscherhöhle, von der man nicht weiß, ob sie Verdammnis oder Erlösung hortet. ‚Kveikur‘ fühlt sich an vielen Stellen undurchdringlich kafkaesk an und ist sicher nicht dazu geeignet, sie über das Autoradio zu hören, sondern mit großen Boxen und viel Aufmerksamkeit. Dieses obskure Höllenspektakel dreht sich um Klang und Stimmung und das muss der Hörer auch zulassen.

Alle Songs nutzen meisterhaft Verzerrung und Deformation des Klangs. Gewöhnt man sich einmal an diese abstruse Oberfläche, dann ist darunter sehr viel Anmut und vornehme Melancholie zu finden, ganz besonders in den Songs ‚Isjaki‘ und ‚Rafstraumur‘. Mit dem Ausstieg ihres Keyboarders besteht der instrumentelle Kern von Sigur Rós wieder aus Bass, Schlagzeug und E-Gitarre, die meist mit dem Geigenbogen gespielt wird. Aus Reduktion bzw. Mangel ensteht oft Kreativität, was auf ‚Kveikur‘ besonders durch Bass und Schlagzeug auffällt, die hier eine weitaus tragendere Rolle als auf den Vorgängeralben spielen: Der Song ‚Stormur‘ ist ein brillant instrumentiertes Highlight zwischen Zärtlichkeit und Gewalt, mit ‚Ísjaki‘ bekommen die Fans der Band endlich wieder eine hymnenhafte Melodie zum Erinnern.

Das Bemerkenswerte dieser Platte ist bei aller Komplexität ihre Natürlichkeit. Anstelle von künstlich inszeniert wirkenden Klangwelten liefern Sigur Rós hier wieder mitreißende Melodien, die handgemacht und menschlich wirken.

Daniel Schlechter