Kritiken

MOTORPSYCHO – BEHIND THE SUN (LP)

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motorpsycho_behind_the_sun_1024x1024.JPG v=1392135369Endlich das Postpäckchen vom Nachbarn mit dem aggressiven Kater abgeholt – der war allerdings friedlich gestimmt und so kann ich mich nun der neuen Scheibe ‚Behind The Sun‘ von Motorpsycho widmen. Die Norweger begehen 2014 das 25. Jahr ihres Bandbestehens und zeigen weder Anzeichen von Altersschwäche noch Ermüdungserscheinungen. Ganz im Gegenteil: das viele, neue Material fand mal wieder nur auf einer Doppel-LP Platz. ‚Behind The Sun‘ haut uns in über 60 Minuten von vertripptem Psychedelic Rock bis hin zu dynamischen Progressive-Balladen alles um die Ohren, was Gitarrensaiten, Schlagzeugfelle und Verstärkerröhren hergeben.

Schon mit dem ersten Titel ‚Cloudwalker (A Deeper Blue)‘ zeigen Motorpsycho, was sie in den letzten 25 Jahren gelernt haben: vielschichtige Songs mit einem grandiosen Gespür für Melodien und Rhythmen. Der tief grollende Bass und das unermüdliche Schlagzeug sind eine sehr komplexe Einheit, die mit ihrem Groove aber immer in die Beine oder – für die Langhaarigen unter uns – in den Nacken geht. Die dynamischen Gitarren, ob elektrisch oder akustisch, reichern die ganze Mixtur mit Fläche und besonderem Charakter an. Die Riffs sind brutal, können aber auch sehr feinfühlig und fragil sein. Der Gesang zieht alle (Ton-)Register und schwillt im Refrain gerne zur mehrstimmigen Lobpreisung an.

Auch der nächste Song ‚Ghost‘ offenbart eine Seite, die mir als eingefleischter Fan jahrelang zu kurz kam: Akustische Gitarren und erdige Gesangspassagen. Streicher und Mellotrone ergänzen sich hervorrangend und zusammen mit der schwermütigen Instrumentierung zaubern sie eine sehr düstere, aber wohlige Stimmung, die mit dem nächsten Song ein jähes Ende findet.

Mit Cowbell und Fuzzpedal rockt ‚On A Plate‘ absolut erbarmunglos. Die Instrumente grunzen vor sich hin, dass die Schweine im Stall blass vor Neid werden. Alles donnert, und auch ‚The Promise‘ glänzt mit astreiner Umsetzung des Gelerntes aus der Schule des Classic Rock. Die ersten Gitarrensoli werden losgelassen, aber hier deutlich sparsamer und beherrschter als auf den Vorgängeralben. Auch ‚Kvæstor (Incl. Where Greyhounds Dare)‘ macht keinen Hehl daraus, dass für Motorpsycho Bands wie Deep Purple, Iron Maiden und Led Zeppelin immer noch relevante Vorbilder sind. Was ich eben noch „beherrscht“ genannt habe, flippt jetzt komplett aus. Es gibt Passagen, wo sich alle wieder einfinden, um zu schauen, ob noch alle da sind. Aber dazwischen ist jeder frei, zu tun, wonach ihm ist. Aber schaut Euch das am besten mal kurz selber an.

Wieder ein paar Ruhepunkte auf dem Weg zum großen Finale des Albums finden sich in den nächsten Songs. ‚Hell, pt. 4 -6. . .‘ spinnt ein musikalisches Thema weiter, was die Band schon 2013 mit dem ersten Song auf dem Album ‚Still Life With Eggplant‘ begann. In über 12 Minuten entwickelt sich der Song vom leichtfüßigen, textbetonten Stück über eine Musik gewordene Traumsequenz zum ausufernden Post Rock-Jam inklusive mehrstimmigem Klimax. ‚Entropy‘ ist wieder eine geradere Popnummer, was ganz gut tut. Im Midtempo schaukeln wir uns durch den Song – schöne Akkorde, schöner Gesang, eins, zwei entspannte Soli. Damit´s aber nicht lahmt, reißt uns der treibende Groove von ‚The Magic & The Wonder (A Love Theme)‘ wieder hoch. Ich ahne schon, was kommt. Mit ‚Hell, pt. 7. . .‘ werden wir noch mal komplett durch Raum und Zeit geschleudert. Ich kann dem Song zwar einen 4/4-Takt zuordnen, aber wo der anfängt und wo aufhört, wissen wohl nur Motorpsycho allein. Das alte Gesangsthema von den ersten Parts von ‚Hell. . .‘ taucht auf, irgendwo zwischen verzerrten Gitarren, knurrendem Bass und jazzigem Rockschlagzeug. Alles überlagert sich, findet doch immer wieder zur gemeinsamen Sache zurück: den Hörer möglichst anspruchs- und effektvoll um seinen Verstand zu bringen.

Auf einmal ist es da: das abrupte Ende von ‚Behind The Sun‘. Ein musikalischer Ausflug, so facettenreich und aufregend, wie ein Trip zur Sonne und (dahinter) noch weiter. Für diese gut eine Stunde skandinavischer Sonnenforschung hätte ich sogar einen nicht friedlich gestimmten, aggressiven Kater des Nachbarn in Kauf genommen.

Maix Fleischer

PIXIES – EP2 (EP)

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pixies ep2Die US-amerikanischen Pixies sind die heimlichen Helden vieler erfolgreicher Musiker und Bands. Schon Kurt Cobain verehrte sie und gab 1994 in einem Interview zu, dass ‚Smells Like Teen Spirit‘ sein Versuch war, mit Nirvana wie die Pixies zu klingen. Viele andere, wie Weezer, Radiohead und PJ Harvey, zollten ihren Tribut. Nun veröffentlichten die Pixies – nach vielen internen Streitereien, Drogen- und Alkoholproblemen und mehreren Trennungen – im letzten Jahr mit der ‚EP1‘ erstmals seit 1991 einen Tonträger mit neuer Musik. Ich war ein wenig enttäuscht! Auch wenn ich nicht mit der Erwartung heran gegangen bin, dass die Band noch so klingt, wie vor über 20 Jahren. In diesem Jahr gab es wieder eine EP mit vier Songs. Ich hab bisher noch nicht reingehört, werde das aber nun nachholen und meine Eindrücke zur ‚EP2‘ mit Euch und einem Pott Kaffee teilen.

‚Blue Eyed Hexe‘ klingt mit seinem stockenden Gitarrenriff, dem gepressten Gesang und simplen Schlagzeug erst mal voll nach AC/DC. Das mag Leuten gefallen, mir nicht! Sänger, Gitarrist und Songschreiber Black Francis gibt zu, was ich gerne als Ausrede sehen möchte: „The song took on different forms, different music and different sets of lyrics. It went through a lot of changes before it settled where it is now.“ Der Song ist weder innovativ, noch charakterisch. Wenigstens das schräge Gitarrensolo erinnert an die Pixies. Schade drum, das Gitarrenriff ist eigentlich cool.

Weiter geht’s mit ‚Magdalena‘: ein ausgereifter Rocksong, der zeigt, dass sich Francis über die Jahre auch gesanglich entwickelt hat. Er kann auch sanft und haucht uns mit viel Kopfstimme seine Worte entgegen: „Magdalena, just between us, oh. You’re the meanest, Magdalena, oh.“ Trotz der seichten Melodien, haben die Gitarren immer noch genug Ecken und Kanten. Alles in allem ist der Song sehr atmosphärisch und rund. Das ist in Ansätzen die Innovation und Entwicklung, die ich hören will.

Den nächsten Song instrumentieren die Pixies wieder ein Stück typischer für den Sound, den sie seit ihrer Gründung 1986 so perfektioniert haben. Jedoch wirkt ‚Greens And Blues‘ dadurch ziemlich berechenbar und glatt. Bass und Akustikgitarre tragen den Song, elektrische Gitarren ergänzen mit viel Melodie. Das Schlagzeug umrahmt das Ganze und setzt ein paar Akzente. Einzig der Gesang versucht, sich neu zu erfinden. Wohl mit fragwürdigem Erfolg: die Strophen singt Francis schwach und austauschbar. In den Refrains erkenn ich ihn erst so richtig. Tatsächlich schrieb Francis den Song mit der Absicht, ein „besseres ‚Gigantic'“ hervorzubringen. Das find ich eigentlich absurd, wenn man bedenkt, dass die Band sich im letzten Jahr von Bassistin Kim Deal trennte und Songs wie ‚Gigantic‘ erst durch ihren typischen, simplen Basssound und den direkten, unverfälschten Gesang funktioniert haben. Kein schlechter Song, aber auch kein richtig guter.

Im letzten Song wird locker gelassen und in die Instrumente gehauen. ‚Snakes‘ entstand nach Aussagen des Gitarristen Joey Santiago als Jam erst während der Aufnahmesessions für die EP. Und das hört man auch. Das ganze Arrangement ist freier; ein bisschen Schrammeln hier, ein bisschen Stampfen da. Der Refrain vervollständigt den Song mit großer Melodie und breitem Sound. Ich glaube, post-hardcor’iger werden wir die Pixies nicht hören.

Nachdem ich diese zweite EP gehört habe, gefällt mir nun die erste um einiges besser. Komische Psychologie, ich weiß. Vielleicht bin ich doch nicht so enttäuscht, wie ich bisher annahm. Vielleicht braucht es auch eine dritte EP bis ich die ‚EP2‘ so richtig gut finden kann.

Maix Fleischer

MINOR ALPS – GET THERE (LP)

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minor alps get thereEigenlob stinkt bekanntermaßen, aber wenn dabei solch schöne Songs entstehen, bin ich gewillt, das zu entschuldigen. In so ziemlich jedem Interview drücken die beiden Protagonisten des Duos Minor Alps ihre Bewunderung für das Schaffen des jeweilig anderen aus. Matthew Caws feierte 2012 das 20-jährige Jubiläum und mittlerweile siebte Album mit Nada Surf als Leadsänger und Gitarrist. Juliana Hatfield veröffentlicht schon seit den späten 80ern Platten, u. a. mit den Blake Babies, Some Girls und solo. Beide Musiker machten in den Neunzigern flüchtige Bekanntschaft mit dem Format des musiktelevisionären Massengeschmacks. Doch scheinen sie, sich auf kleineren Bühnen wohler zu fühlen. Caws und Hatfield lernten sich schließlich eines Tages kennen, haben sich als Fans geoutet und verabredeten sich zur Zusammenarbeit. 2008 sang jeder bei einem Song auf dem Album des anderen. Und als dann Nada Surf 2012 eine Pause einlegten, begann die Arbeit an dem Debut ‚Get There‘, das Ende letzten Jahres auf Barsuk Records erschien.

Minor Alps lassen sich aus – musikalisch und textlich. Sie spielen atmosphärische Popnummern mit Akustikgitarre, Mellotron und dezentem Drumcomputer direkt neben lauten Rocksongs mit elektrischen Gitarren und hastigem Schlagzeug. Bei jedem Song haben sie eine Menge zu erzählen; kaum ein Stück kommt mit weniger als vier Strophen und dementsprechend viel Text aus. Das alles sind vielleicht Symptome eines musikgewordenen Selbstfindungstrips zweier Songschreiber, die bisher diesen Prozess allein bestritten. ‚Get There‘ – also „dort hinkommen“ – würde vom Titel her zu dieser Theorie passen. Doch vor allem ist das Album ein Glanzstück gesanglichen Könnens. Die Tonqualitäten der Stimmen von Caws und Hatfield ergänzen sich außerordentlich gut. Manchmal lassen sie sich kaum noch auseinanderhalten. Nur an wenigen Stellen überhaupt verzichten sie darauf, die Texte unisono zu singen. Wenn beide zusammen singen, entsteht ein Effekt, der die erreichte Harmonie und den künstlerischen Einklang absolut spürbar macht. Und das ist es auch, was dieses Album so besonders macht. Auf einige grandiose Songs (‚Buried Plans‘, ‚I Don’t Know What To Do With My Hands‘, ‚If I Wanted Trouble‘, ‚Maxon‘) kommt diese harmonische und vertraute Art und Weise zusammen zu singen und zu spielen. Ich hoffe, dass Minor Alps trotz des Status eines Nebenprojekts langfristig bestehen bleiben und dann beim Folgealbum der eine oder andere mittelmäßige Song als Symptom der Selbstfindung uns erspart bleibt.


Maix Fleischer

DEAP VALLY – SISTRIONIX (LP)

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artworks-000060336960-frb431-originalSo wie es vor zehn Jahren das The vor dem Bandnamen war, so könnte die Formation des Duos das nächste heiße Ding im Indie sein. Spätestens seit den unvergleichlichen Japandroids ist klar: Zwei Musiker können mehr Energie haben, als AC/DC und Motörhead zusammen. Alles was es dazu braucht: Schmissiges Songwriting, Lautstärke und diese besondere Live-fast-die-young-Energie, die nur entsteht, wenn man es auch wirklich meint. Deap Vally vereinen all diese Eigenschaften und stellten sie gerade auf einer Europatour unter Beweis. Ihr fulminantes Debütalbum ‚Sistrionix‘ ist in den USA bereits Mitte des Jahres erschienen und nun endlich auch hier erhältlich.

Deap Vally sind Lindsey Troy und Julie Edwards aus dem San Fernando Valley in Kalifornien und sie spielen ihre Art von Rockmusik so, als wäre es die einzige Musik, an die je zu denken wäre. Ein pulsierender Mix aus erdigem Blues Rock, garagenverhaftetem Schweine-Rock’n’Roll und immer wieder überschäumendem, psychedelischem Space Rock à la Hawkwind. All diese Zutaten jagt Lindsey Troy durch ihre aberwitzige Fuzz-Gitarre, deren Sound schon symbolisiert, was Deap Vally so gut macht: Sie nehmen die Musik und ihre Einflüsse unglaublich ernst – sich selbst dafür kein Stück.  Die beiden Mädels spielen diesen brodelnden Mix mit einer frenetischen Leidenschaft und Aggression, die den Mund offen stehen lässt. Sie stürzen nach vorne, vom berstenden Schlagzeug getrieben und verlieren sich im nächsten Moment in dahinfließender, krautiger Blues-Improvisation. Die Produktion des Albums verzichtet dabei mit Recht auf Verschönerungen, denn die Musik ist so pur, dass sie nicht mehr geschliffen werden muss.

Songs wie ‚Your Love‘ erinnern ganz offensichtlich an die Black Keys und die White Stripes, andere Nummern tragen die Energie der ganz frühen Yeah Yeah Yeahs. ‚Walk of Shame‘ ist eine herrlich clevere, humorvolle Übersetzung von altem Blues in neuen Indie Rock und nebenbei ein knackiger Seitenhaken auf all die Mehr-Schein-Als-Sein-Girlies, die sich noch nicht aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit erhoben haben. Apropos: Als weibliches Duo, dass die seit Jahrzehnten von Männern dominierten Spielarten des Rocks aufgreift, kommen Deap Vally praktisch nicht um ein Statement zum Thema Gender herum. Und hier kann man nur danke sagen. Kim Gordon und womöglich sogar Judith Butler wären stolz: ‚Gonna Make My Own Money‘ meint eine Frau, die ihr eigenes Geld verdient und sich nicht von reichen Männern abhängig macht – das schöne ist jedoch, dass es dabei bleibt. Dieses einfache Statement, dass der feministische Diskurs zu oft zum Männerhass umgedeutet und damit ins Lächerliche gestürzt hat, ziehen Deap Vally durch und präsentieren sich in den restlichen Songs als lebensbejahende Frohnaturen, die so gut sind, dass sie auch automatisch auf Augenhöhe mit den Männern der Rockmusik sind, darum müssen sie nicht streiten. Alle die es vergessen haben, werden von Deap Vally daran erinnert, dass die Gender-Debatte auch cool geführt werden kann.

Das Highlight der Platte kommt ganz zum Schluss. Das psychedelisch-gewaltvolle und irgendwie ziemlich erotische ‚Six Feet Under‘ ist so aufregend und anziehend, wie es für Kinder damals eine richtig gruselige Geisterbahn war. So wie dort weiß man bei diesem Song irgendwann nicht mehr, wo man ist und wohin es führt. Diese Band hat gerade eine längere Tour mit Thurston Moore und Dinosaur Jr. hinter sich, zu denen sie perfekt passen und wer es einrichten kann, sollte sich einen Termin auf der nächsten Tour sichern. Denn was sie auf der Platte versprechen, das übertrumpfen sie live.

Daniel Schlechter

BILL CALLAHAN – DREAM RIVER (LP)

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0781484055310_1Bill Callahan ist noch ein richtiger Kerl. Ein schweigsamer Einzelgänger, der mit der Zivilisation nie so richtig ins Reine gekommen ist. Manchmal etwas miesepetrig. Einer der viel lieber in diversen Bands Musik macht, Romane schreibt und Bilder malt als wäre er die impressionistische Reinkarnation Casper David Friedrichs. Alles ohne großen Schnick Schnack. Und groß drüber reden? Um Gottes Willen! Callahan hat sich in die Einsamkeit zurückgezogen und genießt dort die ganz einfachen Seiten des Lebens. Musikalisch könnte das verdammt kitschig ausgehen, wären da nicht sein lakonischer Humor und sein überragend raffiniertes Songwriting. ‚Dream River‘ wirkt in Zeiten der wiederbelebten, unsäglich gekünstelten Folk-Musik wie das versonnene Lächeln eines wahren Künstlers.

Es ist die vierte Platte, die der Endvierziger aus Austin, Texas, unter seinem bürgerlichen Namen veröffentlicht. Vorher war er vor allem für seinen trotzigen Lo-Fi-Rock unter dem Namen Smog bekannt. Callahan flanierte immer in der Schnittmenge mehrerer Genres, so auch auf seinem neuen Album. Es ist hörbar von Folk und Country beeinflusst, ohne aber eines von beiden zu sein. Es enthält sehr viele Rock-Elemente, ohne Rockmusik zu sein, sodass es am besten mit dem Überbegriff Americana beschrieben werden kann – dieses mysteriöse Genre, das wenn wir mal ehrlich sind, noch niemand so richtig definieren konnte.


 

Musikalisch schwelgt Bill Callahan geradezu in der freien Form. Es gibt keine Refrains, stattdessen mäandernde Songs, die sich wie der Schmetterling aus der Raupe langsam entpuppen. Dieser organische Sound klingt simpel, dahinter stecken jedoch unzählige Instrumente, die von Callahan so knapp und prägnant zum Akzentuieren der Songs genutzt werden, als wären sie nur dafür gebaut worden. Das einzig beständige ist oft nur die Jazz-Percussion, die alles zusammenhält. So genial einfach die Songs klingen, so entrückt sind sie bei genauerem Hinhören wirklich und Callahan muss sicher ein halbes Dutzend Musiker auf die Bühne bringen, um seine Songs live zu spielen.

Callahans Songwriting gleicht einem Gebirgsbach, dessen Ziel nur der Weg ist, den er sich völlig unvorhersehbar durch die Landschaft bahnt. Diese Musik versprüht den Charme seliger Einsamkeit, mit herrlichem Humor untermalt. So beschreibt Callahan in ‚The Sing‘ das Sitzen an einer Hotelbar und singt: „The only words / I said today / are ‚beer‘ / and ‚thank you‘.“ Einen Rhythmus bekommt dieser von Streichern und leiser Gitarre getragene Song zunächst nur von zwei Klanghölzern, dem einsamsten aller Instrumente, bis dann Callahans warmer Bariton einsetzt. So würde Tom Waits heute klingen, wäre er nicht so viel mit Frank Zappa auf Tour gegangen. Gemeinsam haben beide die Weisheit der Worte und die Romantik. Callahan bleibt dabei immer positiv, reißt kleine Witze und macht das melancholische Lächeln, das er im Augenwinkel trägt, auf magische Weise hörbar.

In Songs wie ‚Javelin Unlanding‘ steckt ungemein viel Poesie, die von Callahan im lockeren Plauderton vorgetragen wird. Zur freien Form seiner Musik passt seine metaphorische Offenheit, die keine manifesten Aussagen daherposaunt sondern den Zuhörer vielmehr selbst erkennen lässt, welche Weisheiten zwischen den Zeilen stecken. So beschreibt er im Song ‚Small Plane‘, einem Highlight der Platte, das Gefühl menschlicher Vertrautheit mit sehr vagen Worten und könnte den Kern dabei doch nicht besser treffen: „Sometimes you sleep / while I take us home / that’s when I know / we really have a home.“ Ganz groß.

Daniel Schlechter

PAUL MCCARTNEY – NEW (LP)

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Kraftvoll, dynamisch, frisch! Man mag es kaum glauben, aber Sir Paul McCartney klingt jung und lebendig. Mit ‚New‘ veröffentlicht er nun wieder ein gradliniges Rock-Album, scheut dabei jedoch nicht vor Einflüssen anderer Genres. Von straightem Classic Rock, psychedelischem Krautrock über akustischem Folk bis hin zur elektronischen Musik mit Trip Hop-Vibe ist also einiges vertreten.

NEW. Ich erwische mich, noch bevor ich mir das neue Werk des ehemaligen Beatles Paul McCartney anhöre, dass ich lange über dieses Wort nachdenke. Was bedeutet ’neu‘, wenn man sich das 16. Studioalbum eines 71-jährigen Musikers und Ritter des Britischen Empire vornimmt? Was kann man „neues“ schaffen, wenn man in 46 Jahren Musikbusiness über 500 Songs geschrieben und 200 Millionen Alben und Singles verkauft hat? Was ist „neu“ an diesem Album des eigentlich stilsicheren Großmeisters des popformatigen Rock ’n‘ Rolls? Ich bin gespannt, noch während die ersten Sekunden des ersten Songs laufen. . .

Wie es sich für ein anständiges Rock-Album gehört, kracht´s zu Beginn erst einmal ordentlich. Verzerrte Gitarren, ein rollender Basslauf – angetrieben vom gelegentlich peitschenden Schlagzeug. Natürlich typisch für McCartney, hackt er die Achtelnoten ins Piano, als ob es keinen Morgen gäbe. Einige Gesangspassagen des ersten Songs erinnern an die bewusst pompöse Mehrstimmigkeit eines jeden beliebigen Queen-Songs. Warum eigentlich auch nicht? Sie runden den eher geraden Verlauf gut ab. Tatsächlich sind die ersten paar Songs recht gradlinig und simpel. Dafür machen sie aber verdammt viel Spaß! Die ersten Gedanken darüber, was er uns als „neu“ präsentieren möchte, kommen mir. Eine Person wird vorgestellt, die neu in sein Leben getreten ist. Schnell wird klar, er erhofft sich eine Menge: „You’ve got something that’ll save us. Save us now!“ Oder auch: „Could you be that person for me? Would you feel right setting me free?“

Eine Rückblende: nun ist der ritterliche Ex-Pilzkopf auf die Akustikgitarre umgestiegen und berichtet uns von einer Zeit vor den Beatles, vor dem Erfolg, als einfacher Arbeiter unterwegs. Ohne viel Schnörkelei und Metapher erinnert er sich. Ein wenig klingen seine Worte wie eine Warnung an sich selbst, an den jungen Paul: „There were rules you never told me, never came up with a plan. All the stories that you sold me, didn’t help me understand. But I had to get it worked out, had nobody who could help. So then in the end it turned out that I had to do it by myself. Hear the people shout! Hear the people shout!“ Nachvollziehbar wehmütig – man bedenke den zu frühen Tod seines Band- und Songschreiberkollegen John Lennon im Jahre 1980 – klingen die Szenen, in denen er die ersten Jahre ihrer Freundschaft und der aufflammenden Liebe zur Musik beschreibt. Wo wir grad bei ehemaligen Beatles-Mitstreitern sind: der Song ‚Early Days‘ mit seinen vielen Akustikgitarren und freundschaftlichen Worten hätte definitiv auch aus der Feder George Harrisons (Beatle Nummer drei von vier) stammen können, wenn das Schicksal es anders gewollt hätte.

Wieder angekommen im Hier und Jetzt beschäftigt sich der Titeltrack ‚New‘ konkreter mit den neuen Dingen im Leben des Paul M. Es bestätigt sich mein Verdacht, dass es sich um eine ganz besondere Person handelt: „You came along. And made my life a song. One lucky day. You came along.“ Dieser Song braucht sich in Gesellschaft seiner nahen Verwandten, wie ‚Penny Lane‘ oder ‚Good Day Sunshine‘, nicht zu verstecken. Piano, Handclaps und Uh-uhs von der ersten bis zur letzten Sekunde. Da bleibt kein Auge trocken!

Erneut ein Bruch: dieses mal zeigt sich das Mischwerk aus ingesamt vier verschiedenen Produzenten von seiner experimentellsten Seite. Paul McCartney hat bewusst junge Vertreter dieses Handwerks gesucht und das hat er nun davon. ‚Appreciate‘ kommt sehr düster und elektronisch daher. Auf sterile Trip Hop-Beats kommt monotoner Gesang. Die Atmosphäre ist so dicht, dass man gerne das Fenster aufmachen möchte. Frisch gelüftet lässt es sich doch viel besser in die zweite Hälfte des Albums starten. Ein wenig Electric Light Orchestra hier, ein wenig Brian Adams da. Die Luft scheint etwas raus, so dass ich mich nun kurzzeitig mit anderen Künstlern als Referenzen behelfen muss. Jetzt wird ganz arg Tempo rausgenommen, um wieder Stimmung aufzubauen. Mit dumpf klatschendem Schlagzeug, langsamer Akustikgitarre und psychedelischer Note singt McCartney endlich Klartext: „Come now lady don’t you do me wrong. I fell for you and now it won’t be long. Before I hold you in my arms. Before I take you to my heart again.“ In einem Interview verrät er, dass mit der neuen Frau an seiner Seite eine glückliche Periode in seinem Leben beginnt. Er fügt hinzu: „So you get new songs when you get a new woman.“ Scheint mir an dieser Stelle schon des Rätsels Lösung zu sein, was es mit dem Albumtitel ‚New‘ auf sich hat. Ich höre weiter, was uns der Mann zu dem Thema noch zu sagen hat.

Nun wird es tatsächlich etwas sexy: „Listen to me, we can give it a try. I’ll look you straight in the eye and pull you to me. What I’m gonna do next I’ll leave entirely to your imagination.“ Und ich muss zugeben, ich fühle mich etwas angegraben. Bis zum letzten Song passiert nicht mehr so viel interessantes. Wenn sich jemand Füllmaterial auf einem Album erlauben darf, dann ja wohl Sir Paul fucking McCartney. Die letzte Nummer ist wieder sehr düster und klingt ein wenig nach David Bowie. Er experiment mit Drumbeats aus der Box und der mumpfige Bass legt sich wie ein dicker Teppich unter das ganze Song-Geflecht. Der Gesang haucht in den Strophen und kommt dann umso kraftvoller im Refrain zur Geltung. Mit dieser eher gedrückten Stimmung sollen wir nun verabschiedet werden? Zum Glück gibt’s da noch einen Hidden Track, der zwar auch eher traurig daher kommt, aber das Gesamtkonzept des Albums wieder mit Inhalt fühlt. Überwältigend ehrlich und nackt offenbart McCartney uns seine Ängste, was die Zukunft betrifft. „I’m still too scared to tell you. Afraid to let you see. That the simplest of words won’t come out of my mouth. Though I’m dying to set them free.“, singt er mit authentischer Stimme, die zwischendurch fast bricht. Mit jedem weiteren Akkord seiner tragenden Klavierbegleitung bringt er uns tiefer und tiefer. Unten angekommen – in der Tiefen wunderschöner Melancholie, wird uns etwas klar: der größte noch lebende Songschreiber der Rockgeschichte, Multimillionär und Ritter des Englischen Empire Sir Paul McCartney ist ein Mensch wie du und ich. Er zeigt uns Stärken, offenbart Schwächen, hat Angst und findet Hoffnung. ‚New‘ zeigt einen musikalisch facettenreichen und textlich ausdrucksstarken McCartney wie schon lange keines seiner Studioalben mehr.

– Maix Fleischer

DARKSIDE – PSYCHIC (LP)

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DARKSIDE_Pack_ShotNicolas Jaar ist ein musikalisches Wunderkind. Im Alter von 19 Jahren gründete er das Label Clown & Sunset und brachte mit 21 Jahren sein Debüt ‚Space Is Only Noise‘ heraus. Seine Musik vibriert zwischen Minimal Techno und einer sehr spannenden, schmutzig-dunkelen Version von Soul. Langsame Beats treffen auf dahinfließende Klanggebilde. So auch auf „Psychic“, dem Debütalbum von Darkside.

Für Darkside hat sich Jaar mit Multiinstrumentalist Dave Harrington zusammengetan. Harrington hat Jaar in den letzten Jahren als Gitarrist auf Tour begleitet. Die Proben für Jaars Konzerte sollen dabei immer häufiger in endlose Jam Sessions ausgeufert sein. Für ihr erstes Konzert sollen Darkside gerade mal 20 Minuten Material fertig gehabt haben, der Rest des einstündigen Sets wurde improvisiert. Dieses Element der Improvisation macht auch ihr Debüt ‚Psychic‘ so spannend wie ein Jazzalbum. Die acht Tracks klingen meist wie Skizzen, offen und unvorhersehbar, roh und kantig, was sie keineswegs stümperhaft (dafür sind Jaar und Harrington zu sehr Vollblutmusiker) sondern überaus charmant macht.

Der Opener ‚Golden Arrow‘ setzt sich über elf Minuten nach und nach zusammen und wirkt fast wie eine atmosphärische Einstimmung für die beiden Musiker, die ihre Instrumente zwar schon umgeschnallt  haben,  aber noch in Ruhe aufrauchen wollen. Langsam baut sich der Song auf, manche seiner  Klangspuren brechen abrupt ab während neue dazukommen. Synthesizer schwirren über ruhige Celli hinweg, ein schleppender Beat setzt ein, eine diskohafte Gitarrenmelodie gesellt sich später dazu. Bald hat der Song eine eindringliche, krautrockige Dichte erreicht, die schnell wieder aufbricht, sodass nichts zu dick aufgetragen klingt.

Dröhnen, Rauschen und Knistern sind die bindenden Elemente auf ‚Psychic‘. Fast jedes Stück beginnt und endet im weißen Rauschen. Das Album wirkt wie eine Studiosession, in der Jaar und Harrington live experimentieren und einander Soundfragmente zuwerfen. Der Track ‚Heart‘ verbindet zum Beispiel einen fast marschartigen Beat mit einer sehr erdigen Gitarre, die auch aus einem Progrock-Song stammen könnte. Dazu setzt unvermittelt das Falsett von Jaar ein, mal sehnsuchtsvoll, mal gespenstisch, immer ziemlich bluesig. Das alles steuert auf die Single ‚Paper Trails‘ hinzu, dem greifbarsten Song der Platte, der vor allem vom Zwiegespräch zwischen obskurem Gesang und pointierten Gitarrenriffs lebt.  Remixe für das Berghain gibt es schon jetzt zuhauf. In ‚The Only Shrine I’ve Seen‘ nähern sich die beiden Musiker dem Funk an, setzen mal die Gitarre, mal die Synthies nach vorn und stellen ihnen einen eingängigen Beat zur Seite, der langsam einem psychedelischen Dröhnen Platz macht.

‚Psychic‘ ist eine Schatzkammer aus Klangflächen, Soundfetzen und Effekten, die gut der Soundtrack zu einem Kurzfilm von David Lynch oder einer endlosen Autofahrt durch eine verlassene Großstadt bei Nacht sein könnte. Die Art und Weise der jazzigen Improvisation, das Zusammenspiel dieser beiden Musiker ist genreunabhängig für jeden Musiker und Musikliebhaber interessant. Trotz aller Sound-Vielfalt hat jedes Stück einen stimmigen roten Faden. Auf Darkside darf man gespannt bleiben, denn offensichtlich treffen hier sehr viel Kreativität und das nötige Know-How aufeinander.

Daniel Schlechter

ANDREW BIRD – I WANT TO SEE PULASKI AT NIGHT (EP)

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Andrew Bird beweist sich erneut als Freund und Helfer bei regnerischen Tagen und/oder schlechter Laune. Im November dieses Jahres beehrte er unsere Hörmuscheln mit einer neuen EP samt US-amerikanischer Kurztour. Das letzte wollt ich wohl dann doch nur der Vollständigkeit halber erwähnen. Sei’s drum. Sechs instrumentale Stücke und eines mit Gesang werden uns auf CD und Vinyl präsentiert.

Der gebürtige Vogelfreund und erlernte Geigenbogenstreicher lässt uns mit Wort und Klang an der Liebe zu seiner Heimatstadt Chicago teilnehmen. Im mehr oder weniger Titeltrack ‚Pulaski At Night‘ besingt und bespielt Herr Bird die ortsansässige Pulaski Road – eine Liebesbekundung an die Stadt, ja. . . Aber wenn man der Entstehungsgeschichte des Titels ‚I Want To See Pulaski At Night‘ glauben mag, dann stellt dies nicht viel weniger als eine Hommage an die asiatisch-amerikanische Studentenpartnerschaft dar. Diese ermöglichte Andrew Bird, diesen für ihn so poetisch klingenden Ausspruch eines thailändischen Austauschstudenten zu vernehmen: I Want To See Pulaski At Night! Ach, herrlich. Klingt wie: Ich möchte Paris im Mondschein sehen! – oder: Die Bière, die so schön hat geprickelt in mein‘ Bauchnabel. Aber hört doch am besten selbst:

Andrew Bird schafft es, ein eher klassisches Instrument wie die Geige modern klingen zu lassen. Neben grandiosen Melodien, die er mittels elektronischer Gerätschaften übereinander stapelt, spielt er auch gerne Akkorde auf dem Instrument, wie man es doch eher mit einer Gitarre tun würde. In kurzen Momenten verschmelzen Geige und Stimme komplett. Was nicht zuletzt daran liegt, dass sein Gesang doch sehr am dynamischen und intervallverliebten Spiel der Geige angelehnt ist. Nachvollziehbar, wenn man das Ding seit seinem vierten Lebensjahr spielt. Verspielte Melodien im Indie-Gewand treffen auf erdigen Folkpop mit Klassik-Anleihen.

Das klingt jetzt eher nach einer Floskel irgendeines Nebensatzes aus dem Übungshefter der Freundin mit fast abgeschlossenem Pädagogikstudium, aber wenn ihr den Song gehört habt, werdet ihr verstehen: Andrew Bird spielt, was Herz und Hand hergeben. „Come back to Chigaco – city of love“ singt er . . .fast so, als würde er mir recht geben wollen. Nach eigener Aussage brauchte Bird geschlagene 20 Jahre, um aus der quasi-thailändischen Alltagspoesie eine hörbare Umsetzung zu schaffen. Gut Ding will Weile haben!

– Maix Fleischer

SIGUR RÓS – KVEIKUR (LP)

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kveikurVon der isländischen Band Sigur Rós wird gern behauptet, sie wäre nicht von dieser Welt. Sie könne nur einer Traumwelt entstammen, bevölkert von Feen, Elfen und was sonst noch (in unserem Klischee) unter dem isländischen Polarlicht herumschwebt. Dieser mystische, sphärisch-mehrdimensionale Sound klang neu, fremd und aufregend, ihr entrücktes Songwriting zeichnete sich meist durch eine unvorhersehbare Dramatik zwischen Trance und Ausbruch aus.

‚Kveikur‘ ist ihr siebtes Studioalbum und stellt gleichzeitig eine Rückbesinnung auf die kreative Essenz der Band dar, der die Musiker mit einem überraschend aggressivem und kantigem Sound frönen. Nach folkig-hippiehaften Ausflügen auf ‚Með suð í eyrum við spilum endalaust‘ und dem recht langweiligen, in körperlos-ätherischem Klang untergehenden ‚Valtari‘ zeigen Sigur Rós auf ‚Kveikur‘ wieder Mut zu Härte und Reibung. Dieses Album ist die lang ersehnte Anknüpfung an den bombastischen Post Rock ihres Albums ‚Takk. . .‘ und an ihren Meilenstein ‚Ágætis byrjun‘ von 1999.

Der Opener ‚Brennisteinn‘ gebärdet sich von der ersten Sekunde regelrecht beklemmend, mit knarzenden Bässen, sirenenhaften Gitarren und dem außerirdischen Gesang Jónsi Birgissons. Es entsteht das Gefühl des Durchwanderns einer nächtlichen Gletscherhöhle, von der man nicht weiß, ob sie Verdammnis oder Erlösung hortet. ‚Kveikur‘ fühlt sich an vielen Stellen undurchdringlich kafkaesk an und ist sicher nicht dazu geeignet, sie über das Autoradio zu hören, sondern mit großen Boxen und viel Aufmerksamkeit. Dieses obskure Höllenspektakel dreht sich um Klang und Stimmung und das muss der Hörer auch zulassen.

Alle Songs nutzen meisterhaft Verzerrung und Deformation des Klangs. Gewöhnt man sich einmal an diese abstruse Oberfläche, dann ist darunter sehr viel Anmut und vornehme Melancholie zu finden, ganz besonders in den Songs ‚Isjaki‘ und ‚Rafstraumur‘. Mit dem Ausstieg ihres Keyboarders besteht der instrumentelle Kern von Sigur Rós wieder aus Bass, Schlagzeug und E-Gitarre, die meist mit dem Geigenbogen gespielt wird. Aus Reduktion bzw. Mangel ensteht oft Kreativität, was auf ‚Kveikur‘ besonders durch Bass und Schlagzeug auffällt, die hier eine weitaus tragendere Rolle als auf den Vorgängeralben spielen: Der Song ‚Stormur‘ ist ein brillant instrumentiertes Highlight zwischen Zärtlichkeit und Gewalt, mit ‚Ísjaki‘ bekommen die Fans der Band endlich wieder eine hymnenhafte Melodie zum Erinnern.

Das Bemerkenswerte dieser Platte ist bei aller Komplexität ihre Natürlichkeit. Anstelle von künstlich inszeniert wirkenden Klangwelten liefern Sigur Rós hier wieder mitreißende Melodien, die handgemacht und menschlich wirken.

Daniel Schlechter